Die Chorstücke des Programms sind vorwiegend
Psalm- und Choralvertonungen, die sich - auch aus Frühklassik, Hochromantik oder gemäßigter Moderne stammend -
sämtlich auf die alte Schule des barocken Kontrapunkts stützen, dieser aber
den ästhetischen Stempel ihrer jeweiligen Zeit aufdrücken.
Bei den beiden Bach-Schülern Gottfried August Homilius (1714 -1785)
und Johann Philipp Kirnberger (1721-1783) lässt sich sehr schön
erkennen, wie sie einerseits sowohl die handwerkliche Tradition des
"Fugenschreibens" beherrschen, andererseits aber bereits mit ihren
exzentrisch detaillierten dynamischen Anweisungen zum musikalischen Sturm und
Drang der Frühklassik überleiten. Dies manifestiert sich bei Kirnbergers
Psalmvertonung "An den Flüssen Babylons" auch in den völlig
musikfernen, gefühlsbetonten Überschriften.
Von den drei Homilius-Motetten beruhen die Vater-unser-Vertonung
und das doppelchörige "Da es nun Abend ward" noch eindeutig auf der
Beherrschung der alten handwerklichen Schule, während das lateinische "Domine
ad adjuvandum" über sie hinaus in die musikalische Ästhetik der Klassik
weist.
Die musikgeschichtliche Bedeutung von Georg Muffat
(1653 - 1704) liegt in seiner Vermittlerrolle zwischen der französischen und italienischen Barockmusik,
deren Stile er in seinem Schaffen vereint. So
beginnt die Toccata 10 aus dem "Apparatus musico-organisticus"
von 1690 (12 Orgeltoccaten) nach Art einer französischen Ouvertüre, endet
aber mit virtuosem Laufwerk in der Manier des italienischen Komponisten
Frescobaldi. In den fugenartigen Abschnitten sind auch Einflüsse des
norddeutschen Orgelmeisters Dietrich Buxtehude zu erkennen.
Auch Heinrich Kaminskis (1886 - 1946) Kompositionskunst fußt eindeutig in der barocken
Tradition, erschließt ihr aber ein rauheres, unwegsameres Klangbild. Durch die
Verwendung von Harmonien, die zwar noch klar tonal zuzuordnen sind, aber doch
teilweise auch traditionelle Zwänge negieren und dissonant unterlaufen, steht
sein Name für den Übergang von der Spätromantik zur klassischen Moderne.
Der Orgelchoral "An Wasserflüssen Babylon"
von Johann Sebastian Bach (1685-1750)
ist die meditative Ausdeutung eines gleichnamigen Kirchenlieds von Wolfgang
Dachstein (1525) auf den Text des 137. Psalms. Eine Besonderheit dieses Orgelstücks
ist die selten gebrauchte Schreibweise für Doppelpedal (Tenor- und Bassstimme
liegen im Pedal).
In den Zusammenhang dieses Chorprogramms gestellt, muss Josef Gabriel Rheinberger
(1839 - 1901), obwohl erst 1901 gestorben, wohl als der Chor-Komponist erscheinen,
der am wenigsten Fragen zu seiner stilistischen "Verortung" aufwirft
und auch keinen Umbruch verkörpert: Seine Motetten nach Psalmtexten und das
lateinische Salve Regina sind eindeutig von einer einfachen romantischen
Tonsprache geprägt, bedienen sich aber auch souverän der Mittel des alten
Kontrapunkts und der musikalischen Rhetorik.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 - 1847) fasste im Jahre 1845 vierundzwanzig kleinere,
bisher unveröffentlichte Orgelstücke (in England "Voluntaries" genannt) zu sechs Sonaten
unter der Opuszahl 65 zusammen. Die 1. Sonate macht unter anderem durch die
Verwendung einer Choralmelodie im ersten Satz auf sich aufmerksam, ohne dass
dies aus der Überschrift hervorgeht, ein musikgeschichtliches Novum, das uns
bei Mendelssohn aber auch in der 3. Orgelsonate, im Schlusssatz des 2.
Klaviertrios und in der Reformationssinfonie begegnet.
Der Frankfurter Komponist Richard Rudolf Klein
(*1921) hat in seinem 2002 uraufgeführten
Motettenzyklus RELIGIO MUNDI den hochaktuellen Dialog der verschiedenen
Weltreligionen zum Thema gemacht. In seiner vielfältigen und rhythmisch sehr
lebendigen musikalischen Sprache, aber auch in der einfachen Durchschaubarkeit und
der Ausstrahlung von Lebensfreude, erschließt er sich sofort jedem auch musikalisch
unerfahrenen Ohr.
(Text: J. Enders / M. Gößwein-Wobbe)
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